Sonntag, 23. Mai 2021

Als ich von der Absicht eines neuen Barrierefreiheitsstärkungsgesetzes erfuhr war ich hoch erfreut.

Als ich von der Absicht eines neuen Barrierefreiheitsstärkungsgesetzes (BFSG) erfuhr war ich hoch erfreut. So schnell habe ich nicht mit der Umsetzung der Barrierefreiheitsanforderungen für Produkte und Dienstleistungen der EU (European Accessibility Act; kurz: EAA-Richtlinie) aus April 2019 in deutsches Recht gerechnet, Zeit wäre bis Juni 2022 gewesen und muss (von Ausnahmen abgesehen) ab Juli 2025 angewandt werden.

Die EAA-Richtlinie verpflichtet die Mitgliedsstaaten unter anderem dazu, den gesamten Online-Handel (es gibt Ausnahmen für kleine Unternehmen) für Verbraucherinnen und Verbraucher barrierefrei zu gestalten. Des weiteren müssen weitere Verpflichtungen zur barrierefreien Gestaltung eingegangen werden, unter Anderen Bankdienstleistungen (einschließlich Bankautomaten) die gesamte elektronische Kommunikation (z.B. Telefone, Notrufnummern, Gegensprechanlagen, u.a.), der Zugang zu audiovisuellen Medien, dazu zählen u.a. die audiovisuellen Angebote aller öffentlich-rechtlichen und privaten Fernsehanstalten. Auch Streaming-Dienste (Video-on-Demand-Angebote) fallen darunter.

Nach genauerer Beschäftigung und Analyse der wesentlichen Punkte wurde ich schnell von der Realität eingeholt. Obwohl vorgewarnt von einem strittigen Referentenentwurf war und bin, bin ich vom Endergebnis tief enttäuscht. Begründen möchte ich dies hier mit drei Punkten und bin der Meinung, hier muss unbedingt nachgebessert werden und schließe mich hier dem Deutschen Behindertenrat vollends an (https://www.deutscher-behindertenrat.de/ID263635):

  • Übergangsfristen: Das Gesetz tritt nach jetzigem Stand erst am 28. Juni 2025 in Kraft und gewährt Unternehmen zudem eine Übergangsfrist von bis zu 15 Jahren. Das bedeutet, dass die Barrierefreiheit von Produkten und Dienstleistungen erst ab 2040 vollends verpflichtend sein wird. Dies widerspricht den Grundsätzen der UN-Behindertenrechtskonvention und ist für Menschen mit Behinderung nicht hinnehmbar. Barrierefreie Produkte und Dienstleistungen – egal ob privat oder beruflich – sind für eine gleichberechtigte Teilhabe unabdingbar.

  • Zentrale Marktüberwachung: Die Marktüberwachung fällt aktuell in die Zuständigkeit der Bundesländer. Für eine einheitliche Rechtsanwendung und Marktransparenz braucht es aber eine zentral organisierte Marktüberwachung, die Barrierefreiheit systematisch und effizient kontrolliert und durchsetzt.

  • Barrierefreie bauliche Umwelt: In dem Gesetz fehlen Angaben zur Barrierefreiheit der baulichen Umwelt vollends. Dies kann zur Folge haben, dass Produkte und Dienstleistungen wie Bankautomaten oder Buchungsterminals zwar barrierefrei sind, Barrieren in der Umgebung aber weiterhin bestehen bleiben. Barrierefreiheit muss – auch gesetzlich – ganzheitlich gedacht und umgesetzt werden.
Warum so lange Übergangsfristen? Güter und Dienstleistung, auch mit Hinblick auf die sich rasant schnell ändernden Digitalisierung, können und müssen sich dem Wandel der Zeit kurzfristig anpassen. Warum also nicht zum Vorteil der Barrierefreiheit?

Befremdend finde ich den § 17 BFSG, Unverhältnismäßige Belastungen, Verordnungsermächtigung, Abs. 1. „Die Barrierefreiheitsanforderungen der nach § 3 Absatz 2 zu erlassenden Rechtsverordnung gelten nur insoweit, als deren Einhaltung nicht zu einer unverhältnismäßigen Belastung nach Anlage 4 des betreffenden Wirtschaftsakteurs führen würde. Der Wirtschaftsakteur nimmt eine entsprechende Beurteilung vor.

Die Wirtschaft übernimmt also per Gesetz die Bewertung von Verhältnismäßigkeit seiner eigenen Güter und Dienstleistungen im Verhältnis zur Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderungen. Hier sehe ich einen eklatanten Widerspruch zu den Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), ratifiziert von der Bundesrepublik Deutschland im fernen Jahr 2009 mit der zentralen Aussage „Nichts über uns ohne uns!“. Und das obwohl wir alle genau wissen, dass der neoliberale Kredo, „Der Markt wird es schon richten“ nicht funktioniert. Selbstverwaltung bei gleichzeitiger eigenen Interessenvertretung war schon immer ein Schuss in den Ofen.

Zusammenfassend gesagt: Es ist sicherlich als positiv zu betrachten, dass mit dem BFSG Ziele der Barrierefreiheit für Güter und Dienstleistungen in Angriff genommen werden. Es besteht jedoch noch ein enormer Bedarf an Nachbesserungen und da werden die Verbände und Interessenvertretungen der Menschen mit Behinderungen sicherlich bald ganz konkrete Vorschläge unterbreiten.

Leider sehe ich im BFSG, obwohl unsere SPD als Koalitionspartner der aktuellen Regierung diesem Gesetz im Bundestag am 20. Mai 2021 zugestimmt hat, nur sehr bedingt den Beschluss unseres Parteivorstandes wenige Tage vorher, vom 8. Mai 2021, besonders im Abschnitte „Bewusste Entwicklung von barrierefreien Produkten“ wieder2. Hierzu sehe ich dringenden innerparteilichen Abstimmungsbedarf. Wie erkläre ich unseren potentiellen Wählern diese Unterschiede? Dem Mythos der Unglaubwürdigkeit der SPD wird hier nichts entgegengesetzt.

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