Freitag, 24. Januar 2020

Behindertenpolitischer Stammtisch - Politische Teilhabe


Am 24. Januar fand bei SelbstBestimmt Leben e.V. ein politischer Stammtisch statt auf dem ich ein Referat zum Thema "Politische Teilhabe" halten durfte.

Ein spannender Abend mit vielen interessanten Fragen. Meinen Leitfaden, den ich als Präsentation vorgestellt habe, möchte ich hier öffentlich machen:

Einladung zum Stammtisch
Auch in der aktiven Politik gilt: 
Behindert ist man nicht, behindert wird man und "Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden", so steht es in Artikel 3 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland.
Wie sieht es mit der politischen Teilhabe der Menschen mit Behinderungen in der Realität aus und was hindert uns daran politisch stärker aktiv zu sein?

Ist politische Teilhabe erwünscht?

Als einer der ersten Vertragsstaaten hat Deutschland das
Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) im März 2007 unterzeichnet und im Mai 2008 ist die UN-BRK in Kraft getreten. „Die Konvention konkretisiert die universellen Menschenrechte für Menschen mit Behinderungen und stellt klar, dass diese ein uneingeschränktes und selbstverständliches Recht auf Teilhabe besitzen“.

Und wie sieht es nun wirklich in der Realität aus? Ist politische Teilhabe von Menschen mit Behinderungen auch tatsächlich erwünscht?

Wir müssen uns zunächst mit ein paar wichtigen und klärenden Fragen beschäftigen. Was ist eine aktive Teilhabe und was die passive Teilhabe am politischen Leben?

Aktives und passives Wahlrecht, was ist das?

Der Artikel 29 der UN-BRK sagt folgendes aus:

Teilhabe am politischen und öffentlichen Leben
(1) Die Vertragsstaaten garantieren Menschen mit Behinderungen die politischen Rechte
sowie die Möglichkeit, diese gleichberechtigt mit anderen zu genießen, und verpflichten sich,
25a) sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen wirksam und umfassend am politischen und öffentlichen Leben teilhaben können, sei es unmittelbar oder durch frei gewählte Vertreter oder Vertreterinnen, was auch das Recht und die Möglichkeit einschließt, zu wählen und gewählt zu werden; unter anderem
i) stellen sie sicher, dass die Wahlverfahren, -einrichtungen und -materialien geeignet,
zugänglich und leicht zu verstehen und zu handhaben sind;
ii) schützen sie das Recht von Menschen mit Behinderungen, bei Wahlen und
Volksabstimmungen in geheimer Abstimmung ohne Einschüchterung ihre Stimme
abzugeben, bei Wahlen zu kandidieren, ein Amt wirksam innezuhaben und alle öffentlichen Aufgaben auf allen Ebenen staatlicher Tätigkeit wahrzunehmen, indem sie gegebenenfalls die Nutzung unterstützender und neuer Technologien erleichtern;
iii) garantieren sie die freie Willensäußerung von Menschen mit Behinderungen als Wähler
und Wählerinnen und erlauben zu diesem Zweck im Bedarfsfall auf Wunsch, dass sie sich bei der Stimmabgabe durch eine Person ihrer Wahl unterstützen lassen;
b) aktiv ein Umfeld zu fördern, in dem Menschen mit Behinderungen ohne Diskriminierung
und gleichberechtigt mit anderen wirksam und umfassend an der Gestaltung der
öffentlichen Angelegenheiten mitwirken können, und ihre Mitwirkung an den öffentlichen
Angelegenheiten zu begünstigen, unter anderem
i) die Mitarbeit in nichtstaatlichen Organisationen und Vereinigungen, die sich mit dem
öffentlichen und politischen Leben ihres Landes befassen, und an den Tätigkeiten und der
Verwaltung politischer Parteien;
ii) die Bildung von Organisationen von Menschen mit Behinderungen, die sie auf
internationaler, nationaler, regionaler und lokaler Ebene vertreten, und den Beitritt zu
solchen Organisationen.

Wählen gehen und sich wählen lassen

Konkretisierend legt Artikel 29 bezüglich des aktiven Wahlrechts (das aktive Wählen gehen) fest, dass Wahlverfahren, Wahleinrichtungen und Wahlmaterialien geeignet, zugänglich sowie leicht zu verstehen und zu handhaben sein müssen. Bei der Stimmabgabe sollen die Vertragsstaaten erlauben, dass sich Menschen mit Behinderungen im Bedarfsfall auf ihren Wunsch bei der Stimmabgabe durch eine Person ihrer eigenen Wahl unterstützen lassen.

Das passive Wahlrecht (sich wählen lassen) soll gegebenenfalls durch die Erleichterung der Nutzung unterstützender und neuer Technologien für die Wahrnehmung eines Amtes geschützt sein.

Ausschluss vom Wahlrecht
Im Bremisches Wahlgesetz (BremWahlG) steht seit der Änderung vom 04.09.2018 im § 2 „Ausschluss vom Wahlrecht“
Ausgeschlossen vom Wahlrecht ist, wer infolge Richterspruchs das Wahlrecht nicht besitzt.

Gleiches gilt seit Mai 2019 auch für Bundes- und Europawahlen.

Ist die politische Teilhabe also gewollt?

Die UN-Behindertenrechtskonvention mit der Forderung der politischen Teilhabe gibt ein klares „JA“ auf die Frage, ob denn die politische Teilhabe behinderter Menschen eindeutig erwünscht ist und formuliert dies als Menschenrecht. In Artikel 29 Absatz 1 Punkt b wird ausdrücklich gefordert, ein Umfeld für diese politische Teilhabe zu fördern. Deutschland hat sich mit dem Beitritt klar dazu bekannt.

Doch die Praxis sieht anders aus.

So wird einem bereits bei einem Mitgliedsantrag bewusst, dass wir Menschen mit Behinderung bei den meisten Parteien gar nicht erwünscht sind. Bereits hier wird deutlich, dass die Aussage," Inklusion ist uns sehr wichtig" nur ein Lippenbekenntnis sein kann. Bereits hier werden wir durch Barrieren davon abgehalten, ein Teil der politisch Verantwortlichen sein zu dürfen. 

Um Mitglied zu werden, drucken Sie bitte das Antragsformular (PDF) aus
und schicken es leserlich ausgefüllt und unterschrieben per Post an die
angegebene Adresse (E-Mail-Anhänge werden nicht akzeptiert). 

Es stellt sich hier die Frage, ob die Parteien überhaupt wissen, was Worte wie "Inklusion" und "Teilhabe" oder auch politische Teilhabe überhaupt bedeuten. Denn außer der Verwendung als attraktives Schlagwort für Wahlwerbung, ist bei den Parteien wenig davon spürbar. So sind zum Beispiel die Informationen egal für welche Wahlen bei allen Parteien ausgrenzend für Menschen mit Sinneseinschränkungen.

Beispiel

Markus Ertl, von der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e.V. - von dem auch ein Großteil der von mir verwendeten Informationen stammen, hat im Vorfeld der Bundestagswahl vier Ebenen der Partei-Informationen auf Barrierefreiheit gemäß Barrierefreie Informationstechnik-Verordnung (BITV 2.0) überprüft, wie etwa die www‑Startseite, der Mitgliedsantrag, Informationen auf Facebook und das Wahlprogramm. Dabei waren diese Angebote bei keiner der geprüften Parteien durchgängig barrierefrei gemäß BITV 2.0‑Standards. Leider sind hier nur Fragmente aus dem Strauß an Informationen mit Hilfstechnologie gut zugänglich. 

Teilhabe?

Aber jede Art von Teilhabe bedeutet, die Zugänglichkeit auf allen Ebenen und für Alle zu ermöglichen.
Diese Forderungen hat auch unser Bremischer Landesbehindertenbeauftragter Dr. Joachim Steinbrück ausgesprochen und ist auch von mir wiederholt in meiner Partei gefordert worden. 

Für Markus Ertl ist es unerklärlich, dass WählerInnen mit Behinderungen, bei Parteien auf der Jagd nach Wählerstimmen, immer noch ausgegrenzt bleiben und fordert bei Wahl endlich barrierefreie Informationen, barrierefreie Wahlveranstaltungen und auch über die Wahl hinaus die Selbstver-
ständlichkeit von barrierefreier politischer Teilhabe.

Und wie sieht es aus mit Menschen mit Behinderung als aktive Politiker?

Ich habe mir die Frage gestellt, welche Parteien haben Kandidatinnen und Kandidaten mit Behinderungen zu den letzten Wahlen in Bremen aufgestellt?

Offensichtlich ist das kein Thema, es findet sich nirgendwo ein Hinweis ob eine Kandidatin oder ein Kandidat ein Mensch mit Behinderung ist und dabei sind mehr als 10 % aller Bürger von Behinderungen betroffen. Es ist offensichtlich, Menschen mit sichtbarer Behinderungen sind proportional unterrepräsentiert.

Natürlich haben wir Politiker im Rollstuhl auf allen politischen Ebenen in Deutschland, einer der bekanntesten wird Wolfgang Schäuble der seit 1990, nach einem Attentat, im Rollstuhl sitzt.

  • Die 54-Jährige Eiko Kimura aus Japan, erkrankt an Zerebralparese, wurde im Juli 2019 ins japanische Oberhaus gewählt. Sie ist mit ihrem roten Elektro-Rollstuhl ins Parlament eingezogen, auf dem sie mehr liegt als sitzt. Ihre Beine und die linke Hand sind fast vollständig gelähmt. Neben ihr wurde auch Yasuhiko Funago gewählt, der an der Lou-Gehrig-Krankheit leidet, an der auch der britische Physiker Stephen Hawking erkrankt war. Die beiden Politiker sind die ersten schwerbehinderten Abgeordneten im japanischen Parlament.
  • Patrick Hennings ist gehörlos. Der taz schrieb er daher per Mail von seiner schwierigen Arbeit als sachkundiger Bürger im Beirat Bremen-Oberneuland. Seit Sommer sitzt er dort für die Grünen im Sozialausschuss, ist sogar stellvertretender Vorsitzender. Aber Hennings hat ein Problem: Er benötigt für seine Arbeit die Unterstützung eines Dolmetschers – doch das Ortsamt gewährt ihm bisher keinen. Dabei habe seine Fraktion der Verwaltung das bereits vor den Sommerferien mitgeteilt. Seine erste Beiratssitzung im August musste Hennings dennoch vorzeitig verlassen, „weil es ohne Dolmetschung einfach nicht ging“ und „In Bremen fehlt bisher das Geld dafür.“.
Schwerbehinderte Menschen mit Assistenz in deutschen Parlamenten? Ich kann es mir schlecht vorstellen, weder Wähler noch die notwendige Barrierefreiheiten und damit ist nicht nur das Geld gemeint, geben es her.

Wie kann man das Ändern?

In der Vereinbarung zur Zusammenarbeit in einer Regierungskoalition für die 20. Wahlperiode der Bremischen Bürgerschaft 2019-2023 findet sich auf Seite 49 folgende Aussage:
Inklusion ist Menschenrecht: Sie eröffnet allen Menschen die Möglichkeit, überall im politischen, sozialen und kulturellen Leben nicht nur dabei zu sein, sondern es auch selbstbestimmt aktiv gestalten zu können. Menschen mit Behinderung sollen Verantwortung im Leben und in der Gemeinschaft selbst tragen und ihre Interessen selbstverantwortlich wahrnehmen und selbstbestimmt vertreten. Dies schließt die Vertretung in Parlamenten und Parteiorganen selbstverständlich ein. Es müssen auch alle Wahllokale, Wahlverfahren, Wahlmaterialien und Wahleinrichtungen barrierefrei werden. Hierzu ist es auch notwendig, dass das Informationsmaterial barrierefrei gestaltet wird und dass die Wahlhelfer*innen entsprechend geschult werden.

Dies ist, nach meinem Wissen, die erste eindeutige Erklärung und Bekenntnis einer Regierung in der Bundesrepublik dieser Art.
Hier ist der Ansatz gegeben auch Menschen mit schwersten Behinderungen in die aktive und gestaltende Politik einzubringen. Wir brauchen alles und alle, unsere Vertreter und Verbände der Menschen mit Behinderungen, die Gewerkschaften, die Parteien, uns Menschen auf der Straße, unser alltägliches Leben bis zu dem Tag wo es „normal“ ist, dass Menschen mit Behinderungen am „normalen“ Leben teilhaben.

Und nun? 

Lasst uns nun über das weitere Prozedere diskutieren und uns gute Lösungen einfallen. 

 
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

© 2020 Udo Schmidt, Bremen

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